Dieser Artikel wurde für den freiraum, die stipendiatische Zeitschrift der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit verfasst und erschien dort erstmalig in der Ausgabe I/2019.
Von Haus aus bin ich ein Risikovermeider; böse und etwas umgangssprachliche Zungen mögen mich sogar als Reichsbedenkenträger bezeichnen: „Aber was ist, wenn dieses und jenes passiert?“ – „Habt ihr daran gedacht, dass wir auch darüber gesprochen haben?“ – „Können wir das überhaupt machen, immerhin steht da, dass das eigentlich nicht vorgesehen ist.“ Das sind alles Sätze, die ich so (oder so ähnlich) mit Sicherheit schon tausende Mal selbst ausgesprochen habe. Ist das immer gut? Nein. Brauchen wir solche Menschen wie mich trotzdem? Ja. Das sage ich im Übrigen nicht nur, weil ich diese Sätze ausspreche, sondern weil ich die Notwendigkeit beider Pole tagtäglich erlebe. Um das zu beweisen, möchte ich einen kurzen Einblick in genau diesen Alltag geben.
Während des Studiums haben zwei Kommilitonen und ich uns im Jahr 2010 selbständig gemacht. Ursprünglich sollte es eine reine Filmproduktion werden, im Laufe der Jahre haben wir uns allerdings zu einer Manufaktur für Markenerlebnisse weiterentwickelt. So bezeichnen wir uns selbst. Von uns Gründern sind noch zwei übrig geblieben, mittlerweile sind wir ein Team aus zehn Leuten, unsere Kunden: überwiegend industrieller Mittelstand, aber auch Handwerker, Dienstleister oder Konzerne wie Daimler.
Drei Beispiele für sinnvolles Risiko
Hätte nur ich mich selbständig gemacht – vermutlich wäre das ohnehin nicht passiert –, wären wir garantiert nicht dort, wo wir jetzt sind, noch wahrscheinlicher sogar bereits gescheitert. Wachstum, neue Kunden, die uns wachsen lassen, und neue Fähigkeiten können wir nur dann entwickeln, wenn wir bereit sind, selbst mit nur zehn Leuten in Forschung und Entwicklung zu investieren, einfach mal namhafte Kunden anrufen und den Sprung wagen, jemand neues an Bord zu holen.
Der das Risiko vermeidende Betriebswirt in mir hat für alles Gegenargumente, hier ein kleiner Auszug für die typischen Szenarien:
- Neue Team-Mitglieder sollten sich bereits bei Ihrer Anstellung rechnen; umgekehrt würde dies zwar bedeuten, dass das bestehende Team deutlich mehr leistet als möglich. Rein betriebswirtschaftlich kann ich mir aber weder Menschen leisten, die kein Geld verdienen (sprich: in der Verwaltung tätig sind) noch solche, für die ich (noch) keine Aufgaben habe. Trotzdem sind wir ja irgendwie acht Leute plus zwei Gründer geworden, für 2019 sind schon die nächsten zwei Kolleginnen oder Kollegen geplant.
- Sich selbst einen (verkaufbaren) Skill beizubringen, ist rechnerisch wahnwitzig. In 2018 haben wir uns selbst eine neue Software beigebracht – von der Bedienung der Software über die Programmierung und die zugehörige Programmiersprache bis hin zur Integration in die entsprechende Hardware. Das hat netto zwei Mitarbeiter rund zwei Monate ohne Projekt beschäftigt, sprich: 20 Prozent der Kapazitäten waren für zwei Monate nicht abrechenbar. Wahnsinn im doppelten Sinne: Betriebswirtschaftlich bekomme ich Sorge, wenn ich jeden Monat darum kämpfe, alle Mitarbeiter ordentlich zu bezahlen. Wahnsinn aber auch, denn so haben wir Daimler als Kunden für uns gewonnen und profitieren davon schon jetzt immens.
- Die Zusammenarbeit mit einem Kunden wie Daimler ist aufregend gewesen. Sie hat unser Unternehmen massiv weiterentwickelt – auf der anderen Seite aber auch fast bis an den Rand der Möglichkeiten gebracht. Zum einen wollen wir nicht, dass ein Kunde bei uns mehr als 20 Prozent Umsatz aus macht (das ist uns gelungen), zum anderen ist der Leistungsdruck für einen Kunden wie Daimler, der zwei Rundum-Fahrsimulatoren mit drei Leveln auf der IAA benötigt, immens hoch. Das gilt insbesondere dann, wenn im selben Zeitraum noch zwei bis drei ähnlich zeitkritische Projekte abgewickelt werden müssen und zeitlich im Anschluss noch fünf weitere Messen warten.
All diese Erfolge hätten wir ohne Risikobereitschaft und ein gewisses Maß an Selbstüberforderung auf der einen Seite und immer auch ein wenig Glück (der Fleißigen) auf der anderen Seite nicht geschafft. Jedes einzelne Team-Mitglied, jedes Kundenprojekt und jeder neue Skill haben uns messbar ein Stück nach vorne gebracht und weiterentwickelt. Sie lassen uns selbstbewusster werden, das Team profitiert finanziell davon und auch dem eigenen Wunsch nach der Umsetzung herausragender kreativ-technologischer Projekte kommen wir nur so immer näher.
Learning: Unternehmer sind Risktaker
Übersetzt bedeutet dies schon mal ein Learning: Echte „Risktaker“ sind alle Unternehmer; egal, wie sicher und außergewöhnlich das Geschäftsmodell ist – des gibt immer eine Abhängigkeit, mindestens von der eigenen Leistungsfähigkeit. Bin ich Freelancer, kann mich eine Krankheit die Existenz kosten. Habe ich Mitarbeiter oder Dienstleister, können diese gesundheitlich (Krankheit), geplant (Urlaub) oder auch in Bezug auf Zuverlässigkeit (Nicht-Lieferung) ausfallen. Das betrifft jedes Unternehmen und damit jeden Unternehmer. Soweit, so pro Risiko. Von uns beiden Gründern ist mein Kompagnon mit Sicherheit der größere Risktaker und hat „ärgerlicherweise“ auch meist Recht und Erfolg damit.
Auf der anderen Seite bin ich aber auch zu der Überzeugung gelangt: Ein risikobereiter Mensch benötigt ein entsprechendes Gegengewicht. In scheinbar endlosen gemeinsamen Gesprächen zwinge ich uns beide dazu, Entscheidungen aus jedweder Perspektive zu beleuchten. Wir diskutieren gemeinsam, wie wir beispielsweise Liquiditätsengpässe vermeiden oder lösen können. Wir schärfen Stellenausschreibungen oder führen intensivere Bewerbungsgespräche, um möglichst viele Einsatzbereiche eines potentiellen neuen Teammitglieds zu eruieren. Wir setzen uns intensiv auch mit solchen Themen auseinander, die uns weniger Freude bereiten oder von denen wir weniger Ahnung haben, weil wir uns den möglicherweise weitreichenden Konsequenzen unserer Entscheidungen bewusster werden können. Abschließend haben wir immer ein worst case-Szenario ausgearbeitet. Die Umstände dieses Szenarios treten im Übrigen fast nie ein, dafür gibt es immer andere, ungeplante und unbekannte Unwägbarkeiten, die wir durch unsere intensive Vorbereitung umschiffen. Ganz nebenbei sorge ich durch meine konservativere Risikovermeidungsstrategie auch dafür, dass wir Bestandskunden weiterentwickeln, gelerntes Wissen häufiger anwenden und unser Unternehmen organisatorisch weiterentwickeln und so stabiler gegenüber möglicherweise eintretenden Unwägbarkeiten machen.
De facto profitieren wir so beide voneinander – ich kann gelassener auf unbekannte Situationen reagieren, da ich gelernt habe, dass niemals jedes Risiko vorbereitet oder gar ausgeschlossen werden kann. Auf der anderen Seite hat sicherlich auch mein Gründungskollege profitiert, indem er schon von sich aus immer mehr potentielle Fallstricke finanzieller oder rechtlicher Natur von Haus aus berücksichtigt oder idealerweise direkt beim Kunden abfängt oder eben abfragt.
Ein großes Risiko ist trotzdem auch, kein Risiko zu berücksichtigen. So wird nur wahrscheinlicher, dass man alles verliert. Das größte Risiko ist sicherlich trotzdem, kein Risiko einzugehen. So besteht keine Möglichkeit der (persönlichen) Weiterentwicklung und des Fortschritts in jedem Bereich.
Risiko und Scheitern gehören zusammen
Einen abschließenden Gedanken möchte ich noch mitgeben, das eigene Risikoverhalten zu verbessern. Ein Risiko nicht einzugehen, hat zwei Ursachen: Es ist die Verantwortung gegenüber anderen, in unserem Falle also gegenüber unserem Team. Die andere Ursache ist ein ur-deutsches Problem, an dessen Lösung sich jeder von uns aktiv beteiligen kann: Wer scheitert, wird häufig stigmatisiert. Dieses Stigma ist daher häufig ein Grund, eben kein Risiko einzugehen. Dieser „German Angst“ entgegen zu wirken erfordert ein Umdenken bei allen von uns, sodass ich jede Leserin und jeden Leser ermutigen sich selbst davon frei zu machen und wenn man selbst schon nicht risikobereit ist (uns braucht es ja auch!) wenigstens den Menschen Respekt entgegen zu bringen, die ein Risiko eingehen (und scheitern).
Bildquelle für Titelbild: Simon Rae auf Unsplash